Zuflucht oder Schicksal?
Die Karawane zog weiter durch den Pass, das Ziel in Reichweite, als die kühle Luft der beginnenden Dämmerung die Hitze des Tages ablöste. Die Durrah lag vor ihnen, in das goldene Licht des nahenden Abends getaucht, und ihre Heimatstadt schien sie in diesen ersten Anblicken wie eine lang vergessene, liebevolle Erinnerung zu begrüßen. Der Wind strich sanft über ihre Wange, wie eine zarte, unsichtbare Hand, die sie willkommen hieß. Sie sog den Geruch der salzigen Weite tief in die Lungen und flüsterte leise, fast wie für sich selbst: „Es riecht nach Heimat.“ Snu, ihr treuer Gefährte, drehte die Ohren nach hinten, als habe er sie verstanden, und an ihrem Mundwinkel spielte ein vermeintliches leichtes Lächeln.
„Nicht mehr lang, Natifah! Dann sind wir in der goldenen Stadt,“ rief der Karawanenführer über seine Schulter. Die Stadt, die sie früher MenekUr nannte, lag in der Ferne vor ihr – ein flimmerndes Abbild, das im letzten Sonnenlicht aufglühte wie eine Fatamorgana. Die Perle der Wüste. Sie hatte lange nicht gewagt, diesen Namen in Gedanken zu formen, und doch wurde ihr Herz von einer vertrauten Wärme durchflutet. In ihren Jahren fern der Heimat hatte sie ein anderes Leben aufgebaut, doch an keinem Ort der Welt war ihr Herz so zu Hause wie in MenekUr, der Stadt, die sie einst verlassen hatte und nun wieder suchte.
Das Unbehagen und die Vorfreude, die sie in den letzten Tagen begleitet hatten, stiegen in diesem Moment wie eine Welle in ihr auf. Erinnerungen schossen durch ihren Kopf: Gedanken an Sahid, an die gemeinsame Zeit, an das Leben, das sie zurückgelassen hatte, und an den kleinen Schmetterling, den das Schicksal ihnen genommen hatte. Sie erinnerte sich an das, was ihr Vater immer gesagt hatte: „Das Herz sieht Wege, die der Verstand nicht erkennt.“ Doch wie würde man sie in Menek`Ur empfangen? Würde man sie wiedererkennen, nach all der Zeit und den Veränderungen? Sie dachte an Freunde und Verwandte, an die Kinder, die nun herangewachsen sein würden, und versprach sich, alles herauszufinden, was sich verändert hatte. Trotz aller Zweifel setzte sie einen Fuß vor den anderen und schritt entschlossen durch die Tore der Stadt.
„Thahida wird heiraten.“ Das hatte sie als Anlass für ihre Rückkehr genommen, doch in Wahrheit wusste sie, dass es ihr Herz war, das sie zurückführte. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mara: „Wenn deine Augen den Weg nicht sehen, schließe sie und folge deinem Herzen. Es schlug, bevor dein Verstand begann zu denken.“ Und so tat sie es.
Sahid
Jahre waren vergangen, seit sie die Stadt verlassen hatte. Sie war fortgegangen, fest entschlossen, einen endgültigen Schnitt zu machen und sich ein neues Leben ohne ihn aufzubauen. Doch er blieb ihr stets im Herzen, als ein Schatten in der Ferne, eine flüchtige Erinnerung, die wie ein leiser Klang mitschwang. Aus dem Ehering, der einst ihr Treueschwur gewesen war, hatte sie ein Medaillon fertigen lassen, das sie nah an ihrem Herzen trug, als Trost und Mahnung zugleich, und die Gravur darin trug ein heimliches Versprechen das ihr alles bedeutete:
"Die Wege der Mara sind unergründlich. Doch Treue belohnt sie stets mit der wahren Liebe."
Immer wenn er in ihren Gedanken auftauchte, griff ihre Hand wie von selbst nach dem Medaillon, und sie fühlte die Wärme, die von dem sanften Metall ausging, als ob es tatsächlich die Erinnerungen an alte Gefühle und die Versprechen von einst in sich bewahrte. Und nun stand er wirklich vor ihr, als hätten die Jahre nur den Bruchteil eines Moments gedauert. Einfach so, als hätten die Jahre keine Bedeutung.
Ihr Atem stockte, ihr Herz schlug heftiger, die Zeit schien stillzustehen. Sie fühlte sich wie damals, wie mit 18, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Die Jahre hatten ihn verändert, hatten ihm neue Linien ins Gesicht geschrieben, doch er strahlte noch immer die Würde und das stille Selbstvertrauen aus, die sie immer an ihm bewundert hatte. Sie spürte, dass auch sie sich verändert hatte, mit Narben und Schatten, die sie tief in ihrem Inneren verborgen trug.
Ihre Blicke verfingen sich ineinander, eine Spannung lag in der Luft, die alles andere ausblendete. Schmetterlinge regten sich tief in ihrem Bauch, ein vertrautes Kribbeln, das sie kaum unterdrücken konnte. Doch sie zwang sich, die Fassung zu wahren. Die Worte blieben vorerst unausgesprochen, nur die Intensität ihrer Blicke drückte alles aus, was im Raum stand. Schließlich fand sie ihre Stimme, nur leise und zögerlich.
Ein kurzer Austausch von Worten, ein unsicheres Lächeln von beiden, und dann trat er zu ihr heran. Ihr Herz begann wild zu pochen, und in dieser Nähe schien die Zeit förmlich zu verschwimmen. Sie nahm wahr, dass er ebenfalls noch den Ehering trug. Dieser kleine, bedeutungsvolle Ring, der so viel mehr in sich trug als Worte je ausdrücken konnten. Tief bewegt, griff sie nach seiner Hand und führte sie sanft zu ihrem Medaillon, damit er es spürte und verstand. Er legte seinen Blick fragend auf sie, doch auch seine Augen strahlten die Vertrautheit und das alte Verlangen aus.
„Erkennst du ihn noch?“ flüsterte sie.
Ein sanftes Lächeln glitt über seine Lippen. „Du hast mir so gefehlt…“
Unwillkürlich legte er seine Hand an ihr Dekolleté, ließ sie dort ruhen, als ob er den Herzschlag darunter spüren wollte. Die Berührung war vertraut, und doch war sie nach all den Jahren fremd geworden. Ihre Blicke, fest ineinander verankert, schienen alle Fragen und Antworten zu enthalten, und für einen Moment war die Welt außenherum verschwommen. Die Stimmen und das Tuscheln der Umstehenden traten in den Hintergrund.
„Wir haben einiges zu besprechen“, sagte er, seine Stimme leise, ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. „Aber das machen wir ohne Publikum.“
Sie nickte, und sie zogen sich zurück, endlich allein, nur sie beide. Er drückte sie sanft gegen die Wand der alten Salzmühle, und das Herzklopfen ließ sie jeden Millimeter dieser Nähe spüren. Ihre Hand legte sich an seine Brust, sie spürte die Wärme, den festen Herzschlag, der auch für sie schlug. Die Luft zwischen ihnen knisterte. Ohne ein weiteres Wort fanden ihre Lippen einander, sanft und behutsam zuerst, dann voller Verlangen, als ob die Jahre der Sehnsucht in diesem Moment aufgelöst wurden.
Er zog sich langsam zurück, um ihren Blick zu fangen. „Wie geht es weiter?“ fragte er sanft, sein Blick voller Zärtlichkeit.
„Sag du es mir“, flüsterte sie, kaum hörbar, als würde allein das Aussprechen der Worte sie verletzlich machen.
„Nenn mich Ranim“, antwortete er, ein zartes Lächeln auf den Lippen. „Wagen wir es erneut?“
Sie nickte, und ein tiefes Strahlen trat in ihre Augen. „Aiwa, dieses Mal für immer.“
Sie lächelte sanft, während sie die Berührung seiner Hand spürte, die langsam über ihre Wange glitt. „Nicht mehr ohne dich“, flüsterte sie, und in diesem Moment wusste sie, dass dies ihre Wahrheit war, die sie aus ganzem Herzen fühlte.
„Du warst es immer und wirst es immer sein“, sagte er leise, und ihre Augen schimmerten vor einem stillen Glück, das sie schon fast vergessen hatte.
Nun, da sie vereint standen, schien die Welt für einen Moment so klar und voller Bedeutung, als wäre ein Schleier gelüftet. Ihr gemeinsamer Weg mochte Arbeit und Herausforderungen mit sich bringen, doch nun fühlte es sich nicht mehr wie ein Hindernis an. Sie waren endlich bereit, das Schicksal gemeinsam in die Hand zu nehmen.