Rettungsversuch[/b]
23. Lenzing 256
Königliche Fregatte Sturmwind
Südliche Meere
Das salzige Wasser stürzte in Wellen gegen die Sturmwind, als wäre die königliche Fregatte ein feindseliges Wesen, das um jeden Preis bezwungen werden müsste. Das Schiff kreiste noch schon den dritten Tag um die kleine Insel in den südlichen Meeren. Tag ein, Tag aus wurden die königlichen Marinesoldaten von dem Unwetter begleitet. Manch eine gaben ihm schon die Namen ihrer Frauen, um sich selbst daran zu erinnern, dass irgendwo im hohen Norden die Heimat auf sie wartete, und dass diese Heimat vermutlich am Ende nicht ruhiger und bequemer sein würde, als hier auf hoher See.
»Mir gefällt es nicht, dass der Korporal jetzt schon fast einen ganzen Tag fehlt.« Die Stimme gehörte zu Wachtmeister Leon Drago. »Auch der Kapitän wird langsam ungeduldig. Was meinst du?«
Endurael Talan, ebenfalls Wachtmeister zur See, lehnte sich über die Reling und musterte die Wellenbewegungen des Wassers. Er hatte sein Barett in der rechten umklammert, damit es dem Sturm nicht gelingen würde, Besitz davon zu ergreifen. »Ich weiß, Leon«, antwortete er leise, sodass seine Stimme fast im Rauschen der Wellen unterging, »wir haben jetzt Wochen damit verbracht, diesen Austausch überhaupt möglich zu machen.«
»Aber wir reden von einem Handel mit Piraten!«
»Piraten sind mir lieber als die fanatischen Anhänger von Alatar. Hätten wir die auf dieser Insel, wäre ich auch besorgt.«
»Es macht mich nur … so ungeduldig, Endurael! Sie hätten schon längst zurück sein müssen!«
Leon hatte mit der Aussage nicht unrecht, das wusste Endurael. Es war etwa drei Wochen her, da kam es zu einem Gefecht zwischen der königlichen Fregatte Riffbrecher und einem Piratenschiff. Die Sturmwind kam zu spät, um ihrer königlichen Schwester Unterstützung zu leisten. Doch die Piraten hatten das Problem, dass ihr eigenes Schiff zwei Tage nach dem Gefecht auf der kleinen Insel strandete, welche die Sturmwind immer wieder umkreiste. Die königlichen Soldaten fanden heraus, dass die Piraten Gefangene genommen hatten. Sie nannten keine Namen, aber offensichtlich handelte es sich um einen Feldwebel und zwei Korporale, die den Kampf auf See überlebt hatten. Der Handel war danach recht einfach gestrickt. Die Sturmwind sollte den Piraten Material und Werkzeuge aushändigen, damit diese ihr Schiff reparieren konnten. Im Gegenzug würden sie die drei Soldaten freilassen.
Korporal Bennet fuhr vor über einem Tag zusammen mit zwei Rekruten los, um diesen Tausch in die Tat umzusetzen. Seitdem war von ihnen nichts mehr gesehen.
»Wachtmeister Talan!«, bellte eine Stimme hinter ihm. Endurael seufzte einmal in sich hinein und setzte sein Barett wieder auf, bevor er sich umdrehte, die Haken zusammenschlug, salutierte und laut rief: »Jawohl, Sir?«
Feldwebel Ramon Brandt warf dem Wachtmeister einen Lederbündel zu, in dem ein Langschwert aus Pyrianmetall eingerollt war. »Wir statten der Insel einen kleinen Besuch ab. Zieht Eure leichte Rüstung an. Ich möchte nicht, dass Ihr bei der Überfahrt ins Wasser fallt und ertrinkt. Abfahrt in zehn Minuten! Los!«
Endurael salutierte einmal erneut und verschwand dann unter Deck. Er hatte nicht viele Dinge mit auf den endlos erscheinenden Einsatz auf See mitgenommen. Aus seiner Kiste kramte er eine blau gefärbte Lederrüstung mit den passenden Beinlingen heraus. Er schnürte seinen Umhang an den Schultergurten fester und trat dann mit dem Schwert, das er bekommen hatte, wieder auf das Deck hinaus. Feldwebel Brandt wartete schon. »Wachtmeister Drago wird uns auch begleiten.«
Als sie im Boot saßen, übernahmen Endurael und Leon die beiden Ruder, während der Feldwebel ihnen den Plan erklärte. »Wir wissen nicht, warum Korporal Bennet so lange auf sich warten lässt, deshalb gehen wir von dem Schlimmsten aus. Der Kapitän gibt uns vier Stunden. Wenn wir bis dahin nicht zurück sind, verlässt er mit der Sturmwind die Insel. Die Rationen gehen langsam zur Neige und bei diesem Wetter können wir keinen Großangriff durchführen, ohne möglicherweise in eine Falle zu tappen.«
»Klären wir nur auf oder was genau tun wir, wenn wir auf Land sind, Sir?«, wollte Leon wissen.
»Die Piraten werden wissen, dass wir die Insel betreten haben. Es macht also keinen Sinn, durch die Gebüsche zu pirschen. Wenn sie uns angreifen, haben wir unsere Antwort … Und wir werden bis zum Ende kämpfen.«
»Das klingt nach einem Himmelfahrtskommando, Feldwebel Brandt?« Leon klang unsicher. Endurael hatte sich aber genau das Gleiche gedacht.
»Temora ist auf unserer Seite, Wachtmeister … Wir werden in Sicherheit sein!«
Sie mussten nicht lange rudern, denn die Wellen trugen ihr Boot gewaltsam und schnell auf die Insel zu. Die Insel hatte an ihrer Ostküste einen Strand, dessen Sand bis tief in das Innere der Insel hineinragte. Als sie Nahe genug waren, sprangen die drei königlichen Soldaten ins Wasser und zogen das Boot hinter sich her, bis dass es auf dem Trockenen war – wenn man bei dem Wetter überhaupt davon sprechen konnte – und zum Stillstand kam.
»Dann wollen wir mal«, murmelte Feldwebel Brandt, »es wird nur geredet, wenn es absolut notwendig ist, kapiert?« Er führte den kleinen Trupp an ein paar Palmen vorbei. Sofort erkannten sie die matschigen Trampelpfade, die ins Innere führten. Schon nach ein paar Minuten vernahmen sie in der Ferne kleine Lichtpunkte, die größer wurden, als sie sich näherten.
Plötzlich ertönte ein Knacken. Feldwebel Brandt hob seine Hand und ballte sie zu einer Faust zusammen. Weder Endurael noch Leon rührten sich. Eine Gewitterwolke am Himmel heulte einmal laut auf. Das flackernd weiße Licht der Blitze erhellte das Waldstück für eine Sekunde und malte die Silhouette einer Person, die an einen Baum gelehnt war. Sie hatte die drei Soldaten offensichtlich noch nicht gesehen.
Feldwebel Brandt griff langsam nach dem Dolch an seinem Gurt und pirschte sich an die Gestalt heran. Kurz vor seinem Kontakt, hielt er plötzlich inne und winkte die beiden Wachtmeister zu sich her. Es handelte sich tatsächlich um eine Person, die sie gesehen hatten. Doch sie lehnte nicht an dem Baum, eine breite Axt hatte ihren Oberkörper durchschlagen und sorgte dafür, dass der Tote an dem Baum festhing. Es handelte sich um einen der vermissten Soldaten. Sein Gesicht war fürchterlich entstellt, weswegen sie nicht sagen konnten, wen es erwischt hatte. Aber der Ausrüstung nach zu urteilen, handelte es sich um einen der beiden Rekruten.
»Weiter!«, flüsterte Feldwebel Brandt und folgte den Spuren ins Innere der Insel.
Die Lichtpunkte waren jetzt als eindeutige Feuerstellen zu erkennen. Es zeigten sich außerdem Umrisse von Zelten, die in der schwarzen Nacht kalt und gruselig wirkten. Eines war vor allem merkwürdig: Sie konnten niemanden erkennen. Weder Wachen noch sonst irgendwelche Piraten befanden sich in dem schwach beleuchten Lager. Es wirkte wie ausgestorben.
»Scheiße, was ist hier los?«, murmelte Leon vor sich hin.
»Shht!«, ermahnte der Feldwebel den Wachtmeister. »Talan, aufklären!«
Ist ja super … Endurael legte seine Hand an den Griff seines Schwertes und schritt langsam und vorsichtig auf den Lagerplatz zu. Seine Stiefel waren kalt und durchnässt und der glitschige Weg versprach auch keine Besserung. Außerdem stieg dem Wachtmeister plötzlich ein süßlicher Geruch in die Nase, den er als Soldat nur zu gut kannte. Es roch nach Tod und Verwesung.
In leicht gebeugter Haltung schlich Endurael an den Feuerstellen vorbei. Er konnte keine Menschenseele erkennen. Niemanden, nicht einmal irgendwelche Leichen. Dann fiel ihm ein großer schwarzer Kreis auf dem Boden auf, der nicht so recht ins Bild passte. Es war ein großes Loch. Endurael legte sich auf den Bauch und zog sich langsam nach vorne. Er würde es nicht riskieren, einen falschen Schritt zu machen, nur um dann nach unten zu stürzen. Als seine Hände den Rand des Abgrundes ertasteten, zog er sich leicht nach vorne, um einen Blick unten zu bekommen.
Entweder spielten seine Augen ihm in der Dunkelheit einen Streich oder das schwarze Loch war sehr, sehr tief. Endurael konnte den Boden nicht erkennen, dafür wurde ihm aber jetzt bewusst, dass der Verwesungsgestank von dort aus kam. Er musste durch den Mund atmen, um seinen Drang, sich übergeben zu wollen, unter Kontrolle zu halten.
Aus den ungewissen tiefen drang ein verzerrtes und dunkles Schnaufen. Das Blut in Enduraels Adern schien stehen geblieben zu sein und gebannt starrte er in die unbekannte Tiefe herab. Es waren zwei kleine gelbe Punkte, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Man brauchte kein Magier sein, um zu kapieren, dass es sich um zwei Augen, ganz ähnlich von Katzen in der Nacht, handeln musste. Endurael wusste aber auch, dass es mit Sicherheit keine Katze war, die da unten lauerte.
Er kroch langsam wieder von dem Loch zurück, bis dass er meinte, genügend Abstand gewonnen zu haben, um sich langsam aufzusetzen. Er wollte dem Abgrund nicht den Rücken zukehren und ging deshalb mit sehr konzentrierten Rückwärtsschritten auf die anderen zu. Ein plötzlicher Schrei hallte zwischen den Bäumen hervor. Endurael wandte den Blick von dem Loch ab und starrte nach links in die Wälder hinein, wo eine ziemlich große Frau mit einer Axt auf die Lichtung rannte. Zuerst dachte er, dass sie in angreifen wollte, doch sie drehte sich plötzlich um und ging in Kampfstellung, um gegen das anzutreten, was da im Gebüsch lauerte. Das Geschrei hat dummerweise aber auch noch einen anderen Effekt: Das Monster wurde wach, denn auf die menschliche Stimme folgte ein Gebrüll, dessen Resonanz von einem Echo begleitet wurde. Endurael hatte das Gefühl, jemand hätte seinen Kopf auf seinen Amboss gelegt und mit einem Schmiedehammer brachial darauf eingedroschen.
Das Wesen brach wie das heiße Wasser eines Geysirs aus dem Abgrund heraus. Endurael konnte nur die Silhouette des Viehs ausmachen, das seine Flügel unter dem gewaltigen Gewitterhimmel ausbreitete. Erst als ein paar Blitze in die Nacht zuckten und die Insel mit einem zeitweiligen Licht aufhellten, konnte der Soldat die klaren Umrisse des Drachen ausmachen, der aus seinem Schlaf gerissen wurde und sich erhoben hatte.
»Ah … Scheiße«, murmelte Endurael vor sich hin. Er hatte es sich anders überlegt und drehte sich jetzt doch um, denn es half ihm nichts, den Drachen einfach nur anzustarren. Einen Kampf alleine würde er nicht überleben und außerdem hatte er dafür auch nicht die richtigen Ausrüstungsgegenstände. Endurael machte deshalb eine schnelle Kehrtwende und erhaschte dabei einen Blick auf die unbekannte Frau. Diese schien sich sehr unsicher zu sein, ob sie sich jetzt dem Unbekannten in den Bäumen oder dem Drachen zuwenden sollte. Endurael jedenfalls wusste sehr genau, was er tun würde: rennen. Er musste zu den anderen zurück.
Wieder ertönte das grässliche Schreien des Drachens, dem ein Beben des Bodens folgte. Wie kleine Wasserwellen verfolgte er Endurael und brachte ihn aus der Balance. Der Drache schnaubte währenddessen einmal laut und spie dann die herzlose Hitze seines Körpers aus, die sich in einem orangeroten Flammenmeer offenbarte. Der glühende Strahl fegte über den Platz hinweg und erfasste dabei die hünenartige Frau, die nicht schnell genug entkommen war. Endurael zog sich wieder auf die Beine und stolperte über einen kleinen Erdhügel, hinter dem er Deckung nehmen konnte. Die Bäume spiegelten das Licht der Flammen so stark, dass der Wachtmeister für einen kurzen Moment dachte, es wäre Tag.
»Was bei den Schicksalstränen ist hier los?« Feldwebel Brandt und Leon kamen in geduckter Haltung auf Endurael zu und lehnten sich ebenfalls in den Hügelaufgang hinein.
»Drache«, gab Endurael knapp zurück und blickte über seiner Schulter zum Lagerplatz.
»Was ist mit den anderen?«
»Ich glaube nicht, dass auf dieser Insel noch irgendjemand lebt, den wir mitnehmen sollten, Feldwebel Brandt.« Er blickte seinem Vorgesetzten bei dieser Aussage direkt in die Augen.
Doch Feldwebel Brandt schüttelte den Kopf. »Wir gehen hier erst weg, wenn wir Korporal Bennet gefunden haben!« Mit diesen Worten erhob sich der königliche Soldat, was sich sofort als Fehler entpuppte. Er hatte seine Deckung zwar nur ein kleines Stück vernachlässigt, doch das genügte der glühend heißen Feuerkugel, um ihn an der Schulter zu erwischen. Auch Feldwebel Brandt trug keine Ausrüstung, um für einen Kampf gegen einen Drachen gewappnet zu sein. Die Wucht des Feuerballs schleuderte ihn ein paar Meter weit gegen einen der Bäume, wo sein Körper zum Liegen kam.
Leon wollte sich gerade erheben, um auf den Feldwebel loszustürmen, als Endurael ihn am Gürtel packte und zurück zum Erdhügel zog. »Nicht die Deckung verlassen!«, schrie er ihn an, als würde Endurael es nicht mir einem Wachtmeister, sondern mit einem einfachen Rekruten zu tun haben. Er selbst legte sich dann auf den Bauch und blickte über den Rand des Erdhügels hinweg auf den ehemaligen Lagerplatz, der überall kleine Brandstellen hatte. Selbst der stürmische Regen kam nicht gegen dieses gewaltige Feuer an.
»Was machen wir jetzt?« Panik lag in Leons Stimme. Er starrte den Feldwebel an, der nur ein paar Meter von ihnen entfernt lag und sich nicht bewegte. »Gegen diesen Drachen haben wir nicht die geringste Chance!«
»Findest du den Weg zurück zum Boot?«, wollte Endurael wissen.
»Was?«
»Ob du den Weg zurück zum Boot findest, Leon?!«
»Ich denke schon, ja!«
»Gut, dann hör mir jetzt sehr gut zu: Ich werde den Drachen ablenken, damit der Weg zum Stand frei bleibt. Scheiß egal, was passiert, du wirst zum Boot rennen und dich sofort aus dem Staub machen! Gib dem Kapitän Bescheid, dass diese Insel zu gefährlich ist, als dass er hier noch länger hier bleiben sollte! Erzähl ihm alles!«
»Was ist mit dir?«
Endurael beantwortete die Frage nicht, weil er selbst noch nicht recht wusste, was am Ende die Wahrheit sein würde. Er klopfte deshalb Leon einmal kameradschaftlich auf die Schulter, bevor er sich von dem Erdhügel abstieß und daran vorbei in die Wälder pirschte. Also er etwa ein Dutzend Bäume hinter sich gelassen hatte, kauerte er nieder und spähte einmal die Lichtung aus. Der Drache war nicht dumm, er hatte ihn gesehen und kam mit mächtigen Schritten auf Endurael zu. Der Soldat schloss einmal die Augen und nahm tief Luft. Dann sprintete er los und versuchte, die Lichtung zu umrunden, um an der gegenüberliegenden Seite anzukommen. Vereinzelte Feuerbälle markierten die Stellen, die Endurael noch Momente zuvor passierte hatte. In einem tosenden Geräusch krachten Bäume um und offenbarten die glühenden Wunden, die der Drachen ihnen zugefügt hatte.
Als Endurael auf der anderen Seite ankam, hoffte er innig, dass Leon schon auf dem Weg zum Strand war und von dieser höllischen Insel abhauen würde. Er selbst würde noch einen Moment in Deckung gehen und seinem Kameraden dann folgen. Doch davor musste er dafür Sorge tragen, dass der Drache ihm nicht bis zum Boot folgen würde. Endurael drehte der Lichtung deshalb den Rücken zu und rannte in die Wälder hinein. Der Drache war aggressiv genug, seine Spur nicht aufzugeben und drückte sich um Boden ab, um die Verfolgung des Soldaten aus der Luft fortzuführen.
Endurael keuchte und hustete, als er an einem kleinen Gewässer ankam. Er drückte sich gegen einen rauen Felsen, der etwa zwei Köpfe größer war wie er. Er ging in die Knie und verschnaufte einmal. Über ihm konnte er den Drachen unter den Wolken umher kreisen sehen. Immer wieder spie das Monster einen Hagel von Feuerbällen in den Wald hinein. Offensichtlich hatte er seine Spur verloren.
Endurael ließ sich eine Minute Zeit und konzentrierte sich. Wenn seine Orientierung stimmte, würde er dem Gewässer ein Stückchen stromaufwärts folgen, um dann irgendwann links in Richtung des Standes zu kommen. Er wusste zumindest, dass er nicht denselben Weg zurücklegen würde, den er gekommen war.
Tatsächlich war der Strand, an dem sie anlegten, näher, als Endurael zuerst dachte. Er hatte gehofft, dass Leon möglicherweise etwas länger brauchen würde, um zum Schiff zurückzukehren. Doch das Boot war verschwunden. Gut … Dann ist er wenigstens in Sicherheit. Endurael überblickte einmal den Strand. Er hatte zwei Richtungen, in die er gehen konnte. Nachdem sich ihre eigene Anlegestelle links von ihm befand, drehte er nach rechts ab. Er hatte noch einen kleinen Funken Hoffnung, selbst von dieser grässlichen Insel wegzukommen. Wieder hörte Endurael in der Ferne die Schreie des Drachen, dessen schleierhafte Umrisse sich manchmal in der Wolkendecke zeigten.
Die Hoffnung des Wachtmeisters wurde nicht enttäuscht. Er fand tatsächlich das Boot, mit dem Korporal Bennet das Schiff verlassen hatte. Ruhig lag es im nassen Sand und wartete nur darauf, wieder ins Wasser gelassen zu werden. Endurael wollte das kleine Wassergefährt gerade ins Meer ziehen, als ein Schatten dahinter hervorsprang und auf ihn losging. Er hatte nicht erwartet, jetzt noch angegriffen zu werden. Sein einziges Glück war, dass die Klinge des Dolches an seinem Körper vorbei schnitt. Endurael konnte seinen Angreifer nicht erkennen. Er packte seinen Messerarm und zog den Fremden an sich vorbei. Dabei drückte Endurael ihm stark ins Handgelenk, um die Kontrolle über das Messer zu brechen. Als er die Gestalt an ihm vorbeigezogen hatte, trat der Soldat ihm in die Kniekehle und brachte ihn so zum Sturz. Die Wucht des Gegenangriffs sorgte dafür, dass der Angreifer seine Waffe fallen ließ. Endurael ging leicht in die Knie und nahm seinen Gegner in den Würgegriff. Erst dann fiel ihm auf, dass die verdreckte und zerissene Kleidung des anderen einmal eine Uniform des Königreiches war. Überrascht ließ Endurael seinen Kontrahenten dann los, der sich an die Kehle fasste, um einem nach Luft zu schnappen.
»Ihr seid einer der Rekruten«, stellte Endurael dann fest.
Der Mann hustete einmal kräftig, bevor er antwortete. »Der Kapitän hat Verstärkung geschickt? Das wurde aber auch mal Zeit! Korporal Bennet … Sie haben ihm diesem Vieh zum Opfer gemacht! Und dann brach auf einmal überall das Chaos aus! Er hatte mich beauftragt, auf das Boot aufzupassen!«
Endurael kniff die Augen zusammen. »Ruhig, Rekrut. Wir können darüber reden, wenn wir auf dem Schiff sind. Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun!«
Sie erreichten die Sturmwind in etwas weniger als einer Stunde. Das Schiff hatte seinen Anker immer noch da gesetzt, wo sie es verlassen hatten. Als sie wieder auf Deck waren, trat der Kapitän auf die beiden Soldaten zu. »Wo bei Temora ist der Rest? Was ist mit Feldwebel Brandt und Korporal Bennet?«
Der Rekrut senkte langsam den Kopf und schüttelte ihn einmal kräftig. »Wir sind die einzigen Überlebenden.«
Noch bevor der Kapitän darauf reagieren konnte, packte Endurael plötzlich den Rekruten von hinten und schnürte ihm mit festem Griff die Atemwege ab. Ein paar der umstehenden Soldaten zogen ihre Schwerter und der Kapitän trat ein Stück zurück.
»Was hat das zu bedeuten, Wachtmeister Talan?!«
Endurael ließ den bewusstlosen Rekruten sachte zu Boden gehen. »Ich kenne diesen Soldaten nicht, Käpt’n. Korporal Bennet ist mit zwei Rekruten losgezogen. Einen von ihnen fanden wir tot an einem Baum. Dieser Mann hier behauptete, gesehen zu haben, wie der Korporal dem Drachen geopfert wurde, der über der Insel kreist. Ich fand ihn aber am Strand, wo er angeblich auf das Boot aufpassen sollte. Wenn das die Wahrheit gewesen wäre, konnte er gar nicht sehen, was mit dem Korporal geschah.« Endurael verschränkte die Arme. »Käpt’n, ich glaube nicht, dass das einer von unseren Leuten ist. Aber ich denke, das können wir dann immer noch schnell herausfinden.«
»Und was ist jetzt mit Feldwebel Brandt, Wachtmeister?«
Endurael schüttelte sachte den Kopf. »Tot, Sir. Der Drache hat mehr oder weniger alles getötet, was auf dieser Insel jemals gelebt hat. Ich gehe auch nicht davon aus, dass die Piraten oder die Überlebenden der Riffbrecher tatsächlich noch am Leben sind. Aber das hat Wachtmeister Drago Euch doch sicherlich schon alles erzählt, als er hier ankam, oder nicht?«
Der Kapitän legte den Kopf etwas schief. »Was meint Ihr damit?«
»Soll das heißen«, stellte Endurael die Gegenfrage, »dass Wachtmeister Drago das Schiff nicht erreicht hat? Ich weiß, dass er den Strand mit dem Boot verlassen hatte!«
Der Kapitän schüttelte sachte den Kopf. »Euer Boot ist das erste, das wir seit Stunden gesehen haben.« Er blickte über die Reling in Richtung der Insel. Immer noch kreiste der Drache über den Wäldern und beschoss die Bäume mit seinen Feuerbällen. »Wir werden noch ein paar Minuten warten, aber es wäre Irrsinn, hier zu bleiben, wenn dieses Ungeheuer in der Nähe ist. Dieses Schiff ist nicht für einen Kampf gegen Drachen gedacht.« Der Kapitän richtete sich wieder an den Wachtmeister. »Wenn Leon Drago in einer halben Stunde nicht eintrifft, werden wir ohne ihn zurück nach Gerimor fahren.«
Endurael biss sich einmal auf die Unterlippe. Er nickte schließlich zustimmend. »Ich werde dann einmal meinen Bericht anfertigen, Käpt’n.«